Ferro war ein untersetzter Typ von schlanker Grazie und unterschätztem Wesen. Ich sage ‚war’, denn er ist tot. Doch die Geschichte seines Todes mag manchem echtem Mann aus Eisen zur Schande gereichen.
Es war ein regnerischer, dunkler Tag, als er über die Bücher gebeugt an seinem Schreibtisch saß. Das alte Holz des Stuhles knackte, wenn er sich auf dem Sitzfleisch hin und her bewegte. Eine einsame Schreibtischlampe erhellte die weißen, beschriebenen Seiten vor ihm, während kritzelnd sein Kuli über das Papier fuhr.
Es war nichts weiter als Zahlenkolonnen. Zahlenkolonnen, deren Sinn nur er verstand. Deren Sinn er verwaltete. Er war der Bankier von Francesco DeCielo.
DeCielo war ein gelassener Mann. Nun, …wenn man ihn nicht gerade versuchte anzupissen. Ferro tat gerade nichts anderes, nach Jahrzehnten der Treue. Und dabei schrieb er nichts als Zahlen in dieses Buch. Nichts als leere Nummern, ohne jedes Wesen und so scheinbar ohne jeden Sinn. Reihe um Reihe. Spalte um Spalte. Und dennoch beschiss er dabei den größten Mafiosi in ganz Italien, wenn nicht sogar Europa.
Ferro war ein gelassener Mann. Er liebte die einfachen Zusammenhänge, den direkten Bezug zwischen Nummern und Bankkonten, den hierarchischen Aufbau der „Familie“. Und genauso verabscheute er alles Komplexe und Undurchschaubare. Er betrachtete sich selbst gerne als jemand, der die einfachen Beweggründe hinter den Machenschaften des Paten symbolisierte. Das Geld, das verdient wurde. Ob mit Glücksgeschäften, Schutzgeldern, Erpressungen oder Anschwärzungen. Hier waren Werbekosten, hier Abschreibungen. Alles hatte seinen Plan und seinen Sinn. Eine riesige Scheinfirma aufbauen, die nur er erfassen konnte und dennoch nur ihn beinhalteten durfte.
Schließlich klappte er das schwere Buch zu und stellte es weg. Damit hatte er den Schritt über die Grenze endgültig getan. Hinter ihm war alles versperrt, was ihn jemals zurück in DeCielos Arme bringen konnte. Von nun stand er allein.
Er stieß sich vom Schreibtisch weg, der Stuhl quietschte einsam und leise mit seinen Rollen, und stand auf. Alles war so ruhig um ihn herum, so unangenehm still. Von diesem Moment an war ihm so, als ob sie von allem wüssten. Als wäre nun alles nicht mehr als eine Frage der Zeit.
Es war spät in der Nacht, und Ferro legte sich schlafen.
Er wusste nicht, dass ihm schon eine ganze Weile lang mísstraut wurde. Und er wusste nicht, dass er beobachtet wurde. Und er konnte nicht im Geringsten ahnen, wie lange schon.
Draußen in einem dunkelblauen Mercedes saßen Roxio und Carlo. Beide hatten die Statur von Esszimmerschränken und die Umgangsformen von brutalen Schlägern. Carlo saß mit einem Infrarotfernglas auf dem Beifahrersitz, lehnte lässig mit beiden Ellbogen aus dem Seitenfenster heraus in die kalte Nacht und spähte Richtung Villa.
„Francesco bezahlt diesen Hund echt zu gut.“ Murmelte er, während sein Atem in dichten Schwaden dem Fenster entfleuchte.
„Ja.“ Antwortete Roxio, das Lenkrad fest in beiden Händen.
„Meinst Du, er wird den Typen überhaupt am Leben lassen, wenn wir ihn erst einmal haben?“
„Nein.“
„Ja, nein. Kannst Du eigentlich auch mal was anderes sagen?“
„Nein.“
„Sehr witzig!“ Höhnte Carlo konsterniert.
Ferro stand derweil im Mantel im Badezimmer und starrte auf sein eigenes Abbild in den verspiegelten Schrankwänden. Eine schmächtige Gestalt mit engen Schultern und karger Hühnerbrust blickte ihm aus dem Frottemantel entgegen. Und dieses Ich schien ihn mitleidig anzuseufzen, als hatte es gerade dieselben Gedanken wie er selbst: Er, allein gegen die Mafia?
Seine Miene war wie versteinert, ein hoffnungsloser Ausdruck in seinen Blick gebrannt. Als er sich in das große Himmelbett im Schlafzimmer legte, wusste er bereits, dass er nicht einschlafen würde. Die ganze Nacht lang nicht. Er wusste, dass er stets denselben einen Gedanken haben würde. Den Tod. Und stets dieselbe eine Furcht. Francesco DeCielo.
Er wischte alles hinfort, die Decke beiseite und über sich.
„Es wird Zeit. An die Arbeit.“
Roxio nickte Carlo nur kurz zu und stieg ebenfalls aus dem Mercedes. Der Bankier war zu Bett gegangen. Jetzt mussten sie ihm nur noch das Licht ausknipsen. Sie drehten gelassen die Schalldämpfer auf ihre geschwärzten Pistolen, im fahlen Halbschatten einer Straßenlaterne gingen sie los. Carlo geduckt und flink, Roxio dagegen stolzierte mit der Waffe im Anschlag breitschultrig geradewegs auf die Eingangstür zu. Seine dunklen Schritte hallten über die Fliesen des Weges, während die Schatten der vollen Laubbäume um ihn herum standen und zuguckten. Bald war er an der Eingangstüre.
Für einen Moment sah er auf die Klingel, das Namensschild las in geschwungenen Buchstaben „Cornelio Ferro“. Schon sprengte er mit einem wuchtigen Tritt das Türholz aus dem Rahmen, klirrend fiel der Griff auf das Parkett im Eingang. Leise öffnete sich die schwere Tür und Roxio trat den Lauf voraus gestreckt hinein.
Er hatte sich um das Anwesen herumgeschlichen und war über die Hecke an der Rückseite gestiegen. Nun lief Carlo eilig über den weiten Rasen dahinter, zur Veranda, zum Hintereingang. Voraus im ersten Stock des Hauses erblickte er einen ausschweifenden Balkon. Darunter, wie unter einem Vordach, die breite Glasfront, die in den Garten hinaus schaute. Schon war er über die Verandafliesen geschlichen und an der gläsernen Hintertür. Ein kurzes Klirren und ein geschickter Handgriff später, schon war sie offen. Surrend fuhr sie auf kleinen Rollen in Schienen am Boden eingelassen auf, und eine breite Gestalt huschte elegant hinein und verschwand.
Ferro hörte die Laute in seinem Haus. Er hörte es einen Moment lang bersten und vernahm das Klirren. Da war alles so still wie zuvor. Ein kurzes, helles Surren wie von der Verandatür. Und wieder nichts als gespannte Leere.
Da war keine Angst in seiner tonlos erstarrten Miene zu lesen. Versteinert saß er aufrecht in seinem Bett und erwartete, was da kommen mochte. Alles wirkte wie ein eiskalter Albtraum.
Sein Blick ging über die dunkelblaue Überdecke hinweg, zwischen den Bettpfosten des Himmelbettes hindurch, über den schweren, roten Perserteppich hinweg zur Eichentüre und dann zu einem Bild an der Wand, welches seinen Vater porträtierte. Ohne Miene sah er ihm in die Augen und versuchte zu erkennen, ob dieser jemals in die gleiche Lage geraten war.
Roxio tappte die Treppenstufen hinauf, eine Hand schnaufend am Geländer, die zweite hielt den gedämpften Lauf der Pistole Richtung Treppenabsatz. Er gab sich keine Mühe, unauffällig zu sein. Er liebte es, seine Opfer in Todesangst zu versetzen. Der Pate hatte ihn stets auf die Familien auserkorener Feinde angesetzt. Er vergewaltigte die Ehefrauen und tötete die Kinder, und alles ohne Reue oder Schuld. So gedankenlos beseelt stieg er Stufe um Stufe hinauf, bis er den ersten Stock erreicht hatte. Ein langer Flur erstreckte sich zu beiden Seiten. Eine einzelne, dunkle Tür war direkt voraus. Er zögerte.
Ferro glaubte, Schritte zu hören. Ganz nah! Sie tappten schwerfällig über die Treppenstufen und blieben unvermutet stehen. Unruhig blickte er hinüber zum offen stehenden Fenster. Dann hörte er ganze Weile lang nichts mehr.
Knurrend stieg er wieder aus der aufgebrochenen Gartentüre heraus. Es gab nur eine einzige Treppe in das erste Stockwerk und die würde Roxio abdecken, dem bewaffnet er nicht zu nahe kommen wollte. Aber außen an der Mauer herauf war auch ein Weg, denn es befand sich dort ein Klettergerüst für Weinlaub. Zuvor hatte er es noch auf jeden Fall meiden wollen, aber inzwischen hing er in halber Höhe, gut zwei Meter über dem Rasen und alles war zu spät. Er hörte deutlich das Knacken und Krachen der Dübel in der gemauerten und verputzten Wand. Schlagartig wurde ihm wieder klar, warum er dies kein guter Weg gewesen war.
Da brach auch schon unter seinem ordentlichen Gewicht die gesamte Halterung aus der Wand! Das sperrige Gerüst kippte wie eine riesige Leiter von der senkrechten Wand, mit ihm hilflos an der Spitze. Splitternd, krachend und berstend schlug es hart auf dem Rasen auf und begrub Carlo stöhnend darunter.
Roxio hatte etwas gehört und war zusammengezuckt. Er trat blitzlings in den Schatten der Türe voraus und verharrte dort, regungslos. Das Krachen war eindeutig aus dem Schlafzimmer voraus gekommen. Und er wusste, dass der Bankier alleine wohnte. Vielleicht bewaffnete er sich gerade? Vielleicht versuchte er aber auch über das Fenster in den Garten zu entkommen!
Ferro war aufgestanden. Im Bett hatte ihn nichts mehr gehalten, in seinen Augen stand die nackte Panik, in seiner Miene Todesfurcht. Die Decke hatte er halb mit sich aus dem Bett gezogen. Unsicher war er zum Fenster gestolpert. Ein lautes Krachen ließ ihn zurückschrecken! Er setzte sich zusammengekauert auf den Bettkasten und lauschte entsetzt dem lauten Fluchen, das aus dem Garten drang. Dort unten war auch jemand! Sein Blick fuhr herum zur Tür, gefangen! Dann, in Windeseile, rutschte er unter das Bett und verharrte dort, regungslos.
Krachend barst die Tür auf, klappernd polterte das herausgebrochene Schloss zu Boden. Drohend schwang sie in den Raum hinein und donnernd gegen die Wand. Ein schwarzer, breiter Schatten stand im Türrahmen und machte jede Flucht unmöglich. Zögerlich trat er in das Zimmer hinein. Pochend ertönten die Schritte. Eine Pistole vor sich gehalten, drehte er sich immer wieder nach links und rechts und wartete, dass sich seine Augen aus dem zwielichtigen Flur heraus an das Dunkel gewöhnten, während hinter ihm die schwere Tür nach einem laxen Fußtritt gegen das nicht mehr vorhandene Schloss polterte und am aufgeborstenen Holz stecken blieb. In ihm stiegen Erinnerungen auf an die Kinderzimmer in den Häusern der Familien, an die hohen Betten mit Holzverstrebungen, damit die Kleinen nicht heraus fielen, an bunte, verspielte Mobiles, die von der Decke hingen, und an unzählige Plüschtiere und Spielzeug, ein Heer an Stolperfallen auf dem Boden.
Eilig war Carlo in das Haus zurück gerannt. Roxio würde sicher gar nicht erst auf das Zeichen warten. Oder er war wirklich so blöd und hielt seinen lauten Absturz für das Zeichen! Er hetzte über das Wohnzimmerparkett, vorbei an den geschwungenen Silhouetten der Polstermöbel und am kantigen Schatten der Bücherregale und des edlen Kamins.
Schon stand er am unteren Treppenabsatz. Sein Blick fuhr hinauf. Genau dort sollte Roxio jetzt eigentlich stehen. Aber er sah nichts und niemand. Langsam und angespannt stieg er die Treppenstufen hinauf.
Ferro schwitzte unter dem Bett in der kühlen Abendluft, die durch das offene Fenster herein wehte. Er sah die schweren Stiefel des Mörders, der brutal sein Gemach betreten hatte. Dumpf pochten seine Schritte über das glänzende Parkett. Aber dröhnend in Ferros Ohren.
Roxio schritt am Bett vorbei und bemerkte das offene Fenster. Genau wie er es sich gedacht hatte, der Typ hatte die Fliege in den Garten angetreten! Mit wenigen Schritten war er am Fensterrahmen und spähte hinaus. Unten lag das zerschmetterte Klettergerüst mitsamt einigen abgerissenen Weinlaubsträngen verstreut auf dem Rasen. Vermutlich besorgte er sich gerade eine Waffe und käme wieder über die Gartentüre herein. Wo war bloß Carlo, der die Hinterseite abdecken sollte! Ohne zu zögern war er herum und wollte zur Tür.
In diesem Moment schwang die Tür auf. Blitzend durchzuckte Roxio ein Gedanke. Ferro!
Ohne abzuwarten schoss er. Gleichzeitig mit der Figur auf der Türschwelle! Gleichzeitig blitzten zwei Mündungsfeuer auf. Gleichzeitig krachten die Pistolen.
Tödlich getroffen wurde die Gestalt auf der Schwelle von der Wucht nach hinten gerissen, donnernd polterte sie die vielen Stufen hinab, bis der leblose Körper auf der untersten Stufe in einer dunkelroten, schweren Lache liegen blieb.
Roxio wollte lächeln, doch er konnte nicht. Die Kugel des anderen war mitten in seiner linken Brust stecken geblieben. Ungläubig gaffend ging er zu Boden, während sein Blick ohnmächtig fragend an der offenen Türsilhouette hing und in das Dunkel starrte, wo die Gestalt hinabgestürzt war. Er hustete, als seine Hände auf das kühle Parkett stürzten, ein dicker Schwall Blut troff aus ihm hervor. Auf allen Vieren würgte und brach er, während sich aus seinem Herzen immer mehr Blut ergoss. Blut und noch mehr Blut. Eine dunkler, großer See, der sich still auf den blanken Holzdielen ausbreitete.
Ferro, betäubt von dem lauten Knallen der Pistolen, lag zitternd unter dem Bettenrost, ganz nah an der Wand, blickte fassungslos aus seinem Versteck hervor und sah wie ein breitschultriger, grobschlächtiger Mann sich am Boden wand und ihn dann plötzlich anstarrte.
Das Weiß in seinen Augen spiegelte das Licht vom Fenster, während er auf die verschreckte hagere Gestalt kauernd unter dem Bett blickte. Ein letztes Lächeln fuhr über seine Lippen. Er konnte nicht anders, als er starb. Carlo! Carlo lag da tot unten am Treppenabsatz.
Verstört saß Ferro in seinem Auto und fuhr die Landstraße entlang. Neben sich auf dem Beifahrersitz lagen die Pistolen der Schläger, in einem schwarzen, kastenförmigen Koffer im Fußraum waren alle Dokumente und Bücher, die er in Windeseile aus seinem Schreibtisch hatte räumen können. Voller Abscheu, Furcht und Ekel war er über die Leichen und Blutpfützen und Lachen gestiegen, die sich spritzend im Pistolenduell überall auf dem Schlafzimmerparkett und der Treppe verteilt hatten. Noch im Morgenmantel in aller Herrgottsfrühe stieg er in den Jaguar und raste los. Zum Bahnhof.
Dort angekommen versteckte er den Koffer und die Waffen in einem der unzähligen Schließfächer und machte sich so schnell er konnte auf, weiter zum Postamt. Den Schlüssel zum Schließfach steckte er in einen großen, braunen Umschlag und adressierte ihn an ein geheimes Postfach. Und mit einem Mal war alles vergessen und verharrte doch so nah.
Während er durch die Innenstadt kurvte und nicht wusste wohin, musste Ferro für einen Moment daran denken, die Carabinieri zu verständigen. Aber so mutig war er einfach nicht, keinesfalls solange er noch am Leben war. Den Personenschutz würde man bestechen, sein Auto mit einer kronzeugengerechten Bombe versehen, Attentäter mit Scharfschützengewehren auf die umliegenden Dächer bringen. Wie das Fett in einer guten Hühnerbeinsuppe auf dem Hof seiner Mutter schwamm die Polizei stets nur obenauf, die Familie hingegen war mittendrin und reichte tief hinab.
Der Gedanke an den Hof seiner Mutter ging ihm später nicht mehr aus dem Kopf.
Florenz war ein viel zu heißes Pflaster für ihn. Seine Mutter war schon vor Jahren verstorben, regelmäßig besuchte er ihr Grab. Sie hatte den Hof ihrem einzigen Sohn hinterlassen, nur hatte dieser ihn seitdem nie wieder aufgesucht. Bis heute.
So fuhr er aus der dichten Innenstadt hinaus, auf die viel befahrene Autobahn, dann bald über einsame Landstraßen. Im Augenblick fühlte er sich unsäglich müde und nichts schien ihm wohler als eine Mütze voll Schlaf im Heuschober in der Scheune wie früher.
Kurz nach Mittag erreichte er den Hof. Im Dorf unten am Hügel hatte er noch etwas Pasta gegessen und war dann zwischen den Olivenbäumen hindurch einen staubigen Feldweg an hohen Wiesen vorbei entlanggefahren. Sofort erinnerte er sich wieder an jedes Detail aus seiner Kindheit, das sich um diesen Hof, um diese staubige Straße, um diese Felder und um diesen Hügel rankte.
Er rannte und stolperte als kleiner Junge in kurzen Hosen über die Plantagen, stürzte und schlug sich beide Knie blutig. Mamma setzte ihn mit zwei dicken Pflastern in den Verandaschaukelstuhl.
Im Schatten des rundherum weiß verputzten Hauses ließ es sich prächtig in der schwelenden Mittagsglut aushalten, während draußen nachts die Zikaden, tags die Grillen zirpten, Insekten brummend durch die trockene, heiße Luft schwirrten und dicke Bienen von Blüte zu Blüte an den Tomatenstauden in Mammas Garten tanzten. Er spürte die kalten, quadratischen Tonfliesen unter seinen nackten Zehen, während er im Schaukelstuhl auf und ab wippte.
Es waren so viele Jahre vergangen. So viele Jahre, seit er das letzte Mal hier gesessen hatte. So viele Jahre war sie jetzt schon tot. Es war eigenartig, seit er den Weg entlanggefahren und die weiße, strahlende Silhouette des Hauses über dem Hügelkamm aufgegangen war, fühlte er sich wie zuhause. Aber er seufzte leise, denn er wusste, daß es das letzte Mal sein würde, daß er dieses einlullende Gefühl empfand.
Leise quietschend wippte der Stuhl angestrengt nach, als er aufstand, um sich das Innere des Hauses anzuschauen. Für den Heuschober brauchte er eine dicke Decke gegen das piekende Stroh, für seinen Hunger noch ein frühes Abendbrot.
Alles im Innern war voller Erinnerungen. Jeder Kratzer, am alten Küchenschemel oder an der Wohnzimmerkommode. Er hatte sich, als er sieben war, einen Zahn an der Esszimmertischkante ausgeschlagen. Mamma war in wilder Panik mit ihm gleich hinunter ins Dorf und weiter in die nächste Kleinstadt zum Zahnarzt gefahren. Er erinnerte sich, wie gestern geschehen, an den energischen Ausdruck in ihrem Gesicht, während sie der promovierte, verselbstständigte Zahnmediziner belustigt angrinste: Daß sie solche Umstände wegen eines Milchzahns machte. Aber so war Mamma. Er hieß Roberto. Er hatte den Mann danach noch ein paar Mal auf dem Hof gesehen. Damals hatte er nie verstanden warum, heute begriff er, daß sich seine Mutter ohne Mann sehr einsam gefühlt haben musste.
Da stand er immer noch im dunklen Esszimmer, seine Augen ruhten auf dem fleckigen, staubigen Holz des Tisches, in Gedanken versunken. Es sah fast aus wie sein Esszimmer in Florenz, fast wie sein Tisch, fast wie sein rothölziger Wandschrank, fiel ihm auf. Und je mehr er durch die Räumlichkeiten schlenderte und mal wehmütig, mal belustigt tagträumte, musste er die Ähnlichkeiten erkennen, zwischen hier und dort, zwischen Zuhause alt und neu. Tief in sich hatte er all das seit Jahren vermisst und dennoch nie betreten können. Wie einfach war es, vor ihr Grab zu treten und dort ihren Namen und ihre Daten in Stein gemeißelt zu lesen. Und wie schwer war es gewesen, hier zu sein, wo er nur immer wieder hatte begreifen müssen, daß sie fort war.
Schlagartig war all diese Schwere fort, als wäre er ihr auf einmal wieder sehr nahe.
Den Rest des Tages verbrachte er mit stummen Spaziergängen rund um das Haus und die nahen Oliven- und Feigenbaumplantagen. Er betrachtete den verdorrten Garten, den riesigen, leeren Hinterhof bedeckt voll hellem Kies, die braun lackierten Ställe und Lager. Der blaue Himmel stand strahlend wie an keinem Tag zuvor über ihm. Und als die Sonne gemächlich den Abstieg gen Westen begann, stand er schließlich vor der weißen Scheune mit ihrem flachen, braunen Satteldach. Sein Blick fuhr herauf und er dachte, „da werde ich heut Nacht schlafen. Ein letztes Mal.“ Es war ein beruhigender Gedanke, der nichts mehr von gestern hatte, das er so weit wie möglich zu verdrängen suchte. Es fiel ihm leicht, innerlich fühlte er sich taub und leer, als hätte man stundenlang auf ein rohes Schnitzel eingedroschen. Seine Knie wurden weich, seine Beine zitterten, wenn er stehen blieb, und seine Hände zauderten, wenn er nach etwas greifen wollte, als wären es die blutverschmierten Pistolen, die er den verzerrten, erstarrten Fratzen der Leichen aus den Fingern hatte brechen müssen. Er schauderte.
Aus dem Haus hatte er eine grüne Decke, eine Taschenlampe und ein Fernglas mitgebracht. Als er durch das große Tor des Schobers trat, blieb er erstmal stehen und schaute sich um. Das Licht der Taschenlampe strich über all die Schatten innen drin. Einige ausgedörrte, zerzauste Strohballen, halb auf dem Boden verstreut. In der Ecke bemerkte er den alten Traktor, Rost hatte an ihm genagt, blutrot und lackgrün prangte er kurz im fahlgelben Lichtkegel. Aber eine dicke Staubschicht bedeckte alles, färbte es dunkel, grau in grau. Darüber hinaus war die Scheune leer und still.
Eine staubige Holzleiter führte hinauf in den Heuspeicher und von dort eine zweite weiter hinauf auf den Dachfirst. Er wollte heute Nacht ein letztes Mal, ausgiebig die Sterne betrachten. Er seufzte bei dem Gedanken. Alles war wie ein Abschied an diesem Tag. Doch dann legte er sich dort oben ins Stroh auf die grüne Filzdecke, schloss die Augen und obwohl es draußen noch heller Nachmittag war, war er sofort eingeschlafen.
Er hatte einen ruhigen Schlaf, dunkel, pechschwarz, ohne einen einzigen Traum. Und als er erwachte, die Sonne war gerade untergegangen und der Himmel fiel schnell in allertiefstes Blau hinweg, fühlte er sich endlos wohl und glücklich. Alles war federleicht, gar schwerelos und so wunderschön hier oben. Nichts als dichtes Schwarz und fern glitzernden Punkten war vom Taghimmel geblieben, die vorher das strahlende Blau noch übertüncht hatte. Mit einem Mal konnte er über die Zeit lächeln anstatt sich von der Stechuhr verfolgt zu fühlen, wenn Banken pünktlich öffneten und schlossen, Finanzämter die Fristen wahrten und Postämter das Päckchen erst am nächsten Tag ausliefern würden. Alle Sorge war von ihm abgefallen, seine Schultern frei und unbeschwert. Hier und jetzt war alles zeitlos, und er musste warten, aber nicht, weil es schon zu spät war, sondern weil noch etwas bevorstand, ohne dass man es hätte beschleunigen oder verzögern können.
Es seufzte und wünschte sich, wieder ein kleiner Junge sein zu dürfen, am Rockzipfel seiner Mamma und als einzige Sorge den Unterricht bei der alten Schachtel Signora DeChelveré zu haben. Er fühlte sich nicht stark genug für das Leben, vielleicht war das der Grund, warum ihm der Verrat so leicht gefallen war, wenn nichts auf dem Spiel stand, fiel alles leicht. Alles.
Er war nicht nach seiner Mutter geschlagen, die niemals auswich, die die Dinge anpackte, auch wenn sie daran kaputtging, oder sein Vater, der einfach Reißaus nahm. Sondern er war jemand, der einfach stehen blieb und träumte, alle Probleme wären lösbar, und wenn man nur ein paar Zahlen fälschen musste. Alles wäre lösbar, irgendwie. Man durfte nur nie aufgeben, nach einem Ausweg zu suchen.
Da musste er über sich selbst lächeln, denn nichts anderes als aufgeben tat er doch gerade, und nichts anderes war die Lösung.
So saß er auf dem Dach in der lauwarmen Abendluft, hatte den Feldstecher an die Augen gepresst und starrte in den Nachthimmel. Das Band der Milchstraße zog sich dicht über ihm hinweg. Orion, die Leier, der rote Arktur und Abermillionen anderer Sterne prangten dort, die noch kein Stadtkind je zuvor erblickt haben konnte, oder je vermissen würde. Außer ihm.
Plötzlich blitzte ein grelles Scheinwerferlicht über der Hügelkante auf, ein schnelles Raunen gesellte sich hinzu. Ein schweres Auto kam vom Dorf herauf! Prasselnd hörte er aus der Ferne den Kies unter den durchdrehenden Reifen wegspritzen. Wedelnd flink jagte das Auto die engen Kurven hinauf, während dröhnend der Motor empor schallte und flackernd das Scheinwerferlicht zwischen den Silhouetten der Olivenbäume hindurch auf und nieder tanzte.
Unaufhörlich kam das Ende vorgeprescht. Das Auto war bald heran, als plötzlich die Scheinwerfer in groß die Vorderfront des Hauses anstrahlten. Dann war auch schon der Motor aus, die Lichter verschwunden. Schlagartig wurde es wieder stockdunkel.
Das Auto verharrte als stumme, dunkle Silhouette gegen den hellen Kies der Hauseinfahrt. Vier Türen klappten auf. Harte Sohlen traten auf knirschende Kiesel. Schon schlugen die Autotüren wieder zu. Während der Motor vom Schweiß knackte und knarrte, kamen die Schritte langsam näher und trennten sich gleichzeitig. Vier Mörder schlichen also gerade auf sein Haus zu. Vier Killer auf der Suche, früher oder später in jedem Winkel. Vier Attentäter auf der Jagd.
In sein Haus, um sein Haus herum, auf dem Hinterhof und durch den Garten drangen sie ein. Knarrend öffnete sich die Vordertür, während drei Paar Schritte weiter durch den Kies traten, ehe die Tür wieder knallend ins Schloss fuhr. Plötzlich war das zweite Paar ebenso verschwunden. Nur noch gedämpft pochten die Schritte über ausgetrocknete Erde und verklangen bald im Gras. Ein Fenster schwang laut polternd auf. Eine dunkle Silhouette, die er gerade eben noch an der Hausseite entlang erkennen konnte, zwängte sich hinein und war fort.
Übrig blieb nichts als die Stille eines einzelnen Schrittepaars, das sich um sein Haus herum bewegte, am Hof vorbei, immer näher auf die Scheune zu, Schritt für Schritt, mit jedem knirschenden Tritt, genau auf ihn zu.
Er spürte seinen Atem in stoßenden Zügen. Er fühlte die Angst, die ihn kalt durchfuhr in dieser ach so lauwarmen Nacht. Er schmeckte seinen trockenen Mund und versuchte den bitteren Speichel herunterzuschlucken. Alles fiel ihm wieder ein! Das schweißnasse Laken, die Geräusche im Haus in Florenz, das Liegen, Ausharren und Zittern unter dem Bett, die Leiche direkt vor seinen Augen! Und nicht zuletzt das verspritzte Blut, überall. Schier überall in seinem Haus!
Er starrte die Luke hinab, in die Scheune unter ihm. Doch zu spät! Die Schritte waren bereits am Tor angekommen. Knirschend fuhren sie über den Staub und raschelnd über das Stroh. Knarrend berührten sie die Sprossen der ersten Leiter. Kratzend traten sie auf die Balken und Bretter des ersten Stockwerks und blickten zur Luke hinauf, durch die schwach der nachtschwarze Himmel herein schaute.
Ferro war längst nicht mehr dort, der Blick starrte vergeblich hinauf. Er war auf einem Balken entlang quer über das Dach hinauf zum First und darüber hinweg geschlichen. Und nun kauerte er just dahinter und starrte auf die Öffnung.
Eine dunkle Gestalt stieß plötzlich daraus hervor. Bleich keuchte ihr Atem in der schnell kühler werdenden Nacht. Mehr und mehr stieg sie aus dem Loch hervor, größer und dunkler wurde ihre drohende Silhouette, bis die Gestalt schnaufend auf dem Dach stand und sich umblickte.
Der Schatten hielt in der linken Hand lässig den langen Lauf eines Gewehrs. Er starrte vom Dach herab, zum Haus hinüber.
Schier lautlos umgab ihn die zwielichtige Nacht. Ein Vogel flatterte aus dem großen Strauch im Vorhof auf und davon. Die Gestalt schreckte kurz, aber rührte sich nicht vom Fleck. Grillen zirpten sanft überall in den dichten Wiesen um ihn herum. Funkelnd still standen die Sterne über ihm. Die Gestalt bewegte sich nicht. Noch immer wandte sie ihm den Rücken zu und starrte von der Scheune herab zum Haus. Plötzlich hob sie das Gewehr! Der Kolben kam auf die Schulter, die Backe an den Lauf, das Auge übers Korn, der Finger nervös am Abzug. Und da verharrte sie auch schon gespannt wieder, regungslos.
Donnernd ertönte ein lauter Knall! Heller Rauch kräuselte aus dem Ende des Laufes. Ein langer Schmerzensschrei stöhnte durch die Nacht, während die Gestalt verbissen triumphierte.
Plötzlich tappten Schritte über das Holz. Noch vorsichtig, da schneller und eiliger! Erschrocken schnellte die Gestalt herum. Ferro kam mit voller Wucht angerannt und rammte seine Schulter dem großen, breitschultrigen Kerl in den Magen. Der schmächtige Stoß ließ ihn rückwärts taumeln. Einen Schritt, dann zwei, dann einen zuviel. Erschreckt aufbrüllend fiel er rückwärts und hinab. Er stürzte tief. Dumpf schlug sein Körper nach ein, zwei Sekunden auf dem Erdboden auf. Leise drang sein Stöhnen herauf.
Sofort war Ferro herum und durch die Luke hindurch beim Abstieg nach unten. Knarrend klagten die Sprossen, während er die Leitern hinunterstürzte und aus dem Tor hinaus rannte. Kaum draußen bemerkte er, dass das Stöhnen verstummt war. Auch den Schrei vom Haus her hörte man nicht mehr.
Er ging vorsichtig um die Scheune herum. In seinem Schädel dröhnte das Blut, in seiner Brust trommelte sein pochendes Herz. Aufgeregt keuchend konnte er keinen klaren Gedanken fassen. Er wollte zur Leiche, ob nun wegen des Gewehrs oder um nach dem Mann zu sehen.
Um die erste Ecke herum sah er ihn liegen. Verkrümmt, geknickt, zerbrochen. Er schien noch zu atmen, in kurzen Stößen, während sich sein Rücken durchbog und seine Brust vom Boden aufbegehrte. Lautlos keuchend wand er sich vor Agonie auf der Erde.
Da blieb er verkrampft und still liegen. Langsam, Fuß um Fuß schlich Ferro näher. Sein karges Gesicht war voller kullernder Tränen. Der Kiefer verkrampft, die Augen zusammengekniffen, die Lippen stumm. Doch seine Hände wollten die Waffe, gierig und zornig griffen sie danach. Sie und das nagende, wispernde Schuldgefühl drängten ihn weiter.
Als er ganz nah heran war, sah er, dass alle Vorsicht umsonst gewesen war. Der Mann war tot. Er bückte sich herab und entriss ihm das Gewehr, das er immer noch in der Linken umklammert fest hielt. Beim Aufstehen sah er unbewusst zum Haus hinüber. Erstarrt hielt er in der Bewegung inne. Unter dem nächstliegenden Fenster lag eine schmale Gestalt! Aber sie regte sich nicht. Es wirkte, als ob sie gerade da heraus gefallen sei, denn der Rahmen stand immer noch offen darüber. Nach einer Weile bemerkte er schlagartig, die dunklen Spritzer am weißen Putz der Wand. Blut! Dort lag, worauf der riesige Kerl vom Scheunendach aus gefeuert hatte.
Er blickte auf die Leiche zu seinen Füßen herab und dachte ungläubig: „Du hast Deinen eigenen Mann erschossen.“
So blieb Ferro hocken, das beim Sturz verzogene Gewehr in einer Hand, und blickte abwechselnd von der großen Leiche neben ihm auf die kleine in einiger Entfernung unter dem Fenster und zurück. Er konnte sich von dieser Groteske einfach nicht lösen. Noch zwei weitere Killer gingen auf dem Hof umher, aber er blieb sitzen und kümmerte sich nicht mehr darum. Stattdessen musste er immer wieder über das vergebliche Leben dieser Menschen denken, die so bereitwillig Leben, ob ihr eigenes oder das anderer, wegwarfen. Was würden sie ihrer Mamma erzählen, wenn sie am Wochenende wie üblich zur Familie fuhren? Was erklärten sie auf Beerdigungen, die sie verursacht hatten, den weinenden Kindern, Enkeln, Töchtern, Söhnen im stummen Dunst eines totenstillen Friedhofs? Was dachten sie abends in ihren Wohnungen, in ihren Betten vor dem Einschlafen, in ihren Träumen mitten in der Nacht? Welche Art von Frau würde solche Männer lieben?
Aller Ekel und Abscheu versammelte sich in einem nicht enden wollenden Kopfschütteln aus Fragen über Fragen, zu dem ihm keiner je eine Antwort geben konnte. Und nicht zuletzt verstand er auf einmal den Boss nicht mehr, für den er doch alle die Jahre die Zahlen vor dem Gesetz gerade gerückt hatte, aber der solche Leute anstellte und das nicht nur zum Personenschutz – oder zumindest in seinem Fall äußerst präventiv.
Im Hintergrund, weit entfernt, und dumpf wie aus dem Haus heraus, hörte er Schüsse unterschiedlichen Kalibers krachen. Erst vereinzelt, dann in schneller Folge. Er jedoch blieb ungerührt. Wie konnte die Kindheit solcher Leute sein? Wie konnte sie ihren Familien in die Augen schauen mit der gleichzeitigen Erinnerung an die Fratzen der Leichen, die sie erschossen hatten? So wie er die Mörder in seinem Florentiner Haus niemals vergessen würde.
Plötzlich kreischte eine erregte Stimme: „Luigi!“ Dann „Nein! Nicht!!“ Wieder donnerten dumpf die Schüsse, dann folgte Stille und nichts weiter in dieser lautlosen, lauwarmen Spätsommernacht.
Ohne sich noch einmal in Haus oder Hof umzuschauen, hatte er den Ort seiner Mutter verlassen. Er wollte keine weiteren entstellten, toten Fratzen in seinem Kopf, die ihn immer wieder kalt, tonlos und leer anstarren würden. Nicht jetzt, wo immer noch ein eigenartiges Gefühl von Wärme und Geborgenheit in ihm summte, als ob er wüsste, dass seine Kindheit schön war und er geliebt wurde, als hätte er den Tod nicht erlebt oder den Mörder vom Dach gestürzt. Die rastlosen Gedanken, die ihn die ganze Zeit schon gefangen genommen hatten, ließen ihn nicht wieder los. Und die ganze Nacht, die er hindurch fuhr, immer weiter fort, während Hügel zu Bergen wurden, Schnellstrassen zu sich windenden, schlängelnden Pässen, und am Ende alles zum rauschenden Meer hinab fiel, schien er mit offenen Augen zu träumen. Vom Hof seiner Mutter, mitten im späten Sommer, als er über die struppigen Wiesen rannte, im Schatten der Olivenbäume an der staubigen Strasse entlang, immer weiter und weiter, ohne jemals wirklich den Hof zu erreichen.
Mitten auf einem Strand parkte er, als das Auto im Sand stecken blieb. Er stieg aus, lief ein paar Schritte auf die heranrauschende Brandung zu, in diesem Bild aus schwarzem Himmel, glitzernden, silbernen Meer und grauen Sandstrand. Er setzte sich im Schneidersitz nur ein paar Schritte von der dampfenden, knackenden Kühlerhaube entfernt, das Auto im Rücken, den Blick schnurgeradeaus.
Es erschien, als könne er ewig vor den Schlägern des Bosses davonlaufen, als hätte er zwar etwas getan, nur noch lange nicht eine Entscheidung getroffen. Denn vor deren Konsequenz lief er doch immer wieder davon. Er fühlte sich wie eine Maus, die ja solange am Leben bleiben würde, wie sie das Schicksal Katze mit Fluchtversuchen bei Laune halten konnte.
Musste er es nicht endlich einsehen, dass er gerade genau das gleiche tat wie einst sein Vater? War nicht ein Mann zu sein gleichbedeutend damit, den Folgen der eigenen, gewollten Taten ins Auge zu sehen?
Er musste einfach zurückfahren. Er musste.
Als er einen letzten Blick hinauf gen Wolken warf, bemerkte unter ihnen einen Umriss seinem Vater zum Verwechseln ähnlich. Er erkannte ihn sofort vom Portrait in seinem Schlafzimmer in Florenz. So groß, stattlich und erhaben er dort abgebildet war, so klein und schmächtig wie Ferro selbst war er in Wirklichkeit gewesen. Das Eigenartigste aber war seine lange Nase, die ihm im Gedächtnis blieb. Er wusste nicht, warum er gerade jetzt an seinen Vater denken musste. Er spürte nicht, wie sich seine Gedanken an jedwede Vertrautheit zu klammern suchten, just wo seine ganze Existenz kurz davor stand ins rauschende, anbrandende Meer direkt vor ihm zu stürzen.
Er sah auf die schaumgekrönten Wellen, die an pechschwarzen Wolken, die dicht über dem Meer hingen, kratzten und zerrten, dass diese aufrissen und sich ein sanfter rosa Schleier des noch ungeborenen Morgens am Horizont abzeichnete.
Erneut zeichnete sich das kantige, väterliche Gesicht vor seine Augen ab und schaute ihn stumm an. Entdeckte er da einen Vorwurf? Daß er etwas wegwarf, das er doch so sehr brauchte. Schalt er ihn mit Dummheit und Ignoranz? Und dass wo er selbst alles verworfen hatte, als er damals im Sommer eines Tages von seinen üblichen Fluchtversuchen vor Hausarbeit und Putzerei in die Kneipe des Dorfes nicht mehr zurückgekehrt war. Das Schlimmste war aber, dass es seiner Mutter erst am nächsten Morgen aufgefallen war. Er hatte sie wecken wollen und war in ihr Schlafzimmer getollt. Sie war aufgeschreckt und sah dann auf die zweite Betthälfte. Immer noch erinnerte er sich an ihre erstarrten Augen, die danach nie mehr so lächeln würden wie früher. Im Nachhinein wusste er, daß sie es schon immer befürchtet hatte, nur glauben wollte sie es nicht.
Im Sand und alten Erinnerungen wühlend schreckte er plötzlich hoch. Ein alter Mann stand vor ihm, die gelben Zähne lächelnd gebleckt, beugte sich zu ihm herab und brummte: „Guten Morgen. Ist das ihr Auto?“ Ferro antwortete bloß verdattert: “Ja!“ „Schade.“ Der alte Kauz nickte, als hätte er es andernfalls klauen wollen, und wandte sich zum müden Weiterschlurfen. Doch Ferro konnte ihn im Moment ebenso wenig verschwinden lassen wie seine innehaltende Verwunderung. Als müsste so unbedingt gleich hier und jetzt jedes vergangene Puzzlestück an seinen Platz fallen, jene, die er die ganze Fahrt über vergeblich gesucht hatte, während er immer weiter vom Hof davon strebte.
„Warten Sie.“ Rief er aus und stand eilig auf. „Wo bin ich hier überhaupt?“
„Auf der Erde, wenn sie so fragen.“ Der alte Mann lächelte höhnisch.
„Aber welche Stadt?“ Antwortete Ferro, der die Bemerkung einfach überging.
„In Cecina, am goldensten Platz, wo sonst?“ Und wieder grinste der alte, seine Alkoholfahne schlug ihm diesmal deutlich ins Gesicht.
Da wandte der alte Mann sich ab und ging, stolpernd Schritt für Schritt durch den wegrutschenden Sand, als wolle er weiter zum nächsten Auto, das auf dem Strand geparkt hatte, um dem Nächsten Leben und Lage deutlich werden zu lassen.
Er war bald ebenso verschwunden wie die letzten Erinnerungen, Schatten und das letzte Zwielicht der Nacht. Die Sonne war über den Bergen aufgegangen und ein neuer strahlender Morgen hatte begonnen. Das Meer lag rot-golden glitzernd vor ihm. Stumm nickend machte er sich auf und wollte sich in dem nahen Ort umsehen. Er wollte dem wispernden Gedanken nicht trauen, dass er doch hier in der Unbekannte sicher war. Der Hof seiner Mutter war als Zuflucht zu offensichtlich gewesen, auch wenn er nie jemandem davon erzählt hatte. Aber dieses Fischerdörfchen irgendwo gut hundert Kilometer nördlich von Florenz? Wie weit, wie tief reichten die Augen und Arme der Familie? Würden sie ihn hier finden können?
Er schlenderte über die kopfsteingepflasterte Promenade, entlang an einer tiefen Mauer, die den Bürgersteig von der Straße daneben trennte. Er saß sich bemüht neugierig, die krummwinkligen, kleinen, windschiefen Häuser und Gässchen an, die sich gegen den Hang stemmten, scheinbar alle für den schönsten Blick auf dieses unermessliche Meer. Hier könnte er doch frei sein? Hier könnte er doch aus seinem Fenster blicken, zwischen den grauen Vorhängen hindurch von der Ferne träumen.
Plötzlich nahm er ein schmatzendes Geräusch von unter seiner Sohle wahr, laut und klar mit jedem Tritt. Er blieb stehen, hob angewiderte den linken Schuh und schaute sich die Misere an, in die er getreten war. Ein Kaugummi klebte darunter, schmutzigrau und nichts als ein zäher, großer, klebriger Fleck. Er hüpfte ärgerlich hinüber zur Mauer und wollte ihn an deren Kante verdrossen abstreifen, aber es wurde dabei nur noch schlimmer. Die widerspenstige Masse verteilte sich in den Ritzen der Sohle und selbst mit einem kleinen Stöckchen hätte er sie nicht mehr heraus pulen können. Entnervt gab er auf und setzte er sich. Er zog die teuren Treter samt Socken aus und warf sie hinter die Mauer, alle beide, außer Sicht.
Mit dem Morgen war auch der kleine Ort erwacht. Allmählich kamen die ersten Menschen aus den Häusern auf die Straße. Alte Menschen zu einem Spaziergang vor dem Frühstück, die letzten Fischer auf dem Weg zu ihren Booten, die im Hafen, noch ein gutes Stück die Promenade hinab, vertäut lagen. Eine ältere Dame mit einem blauen Kittel, vielleicht auf dem Weg zu ihrem Geschäft. Sie kam ihm irgendwie bekannt vor, deswegen betrachtete er sie länger und verfolgte sie mit Blicken. Etwas ähnelte sie der Mutter von DeCielo, mit ihrem zum Dutt aufgesteckten Haaren und dem faltigen, ewig lächelnden Wangen. Mit einem Mal aber blieb die Dame nun stehen und drehte sich um. Verwundert betrachtete sie ihn, rief dann einem Bekannten, der hinter ihr gelaufen war etwas zu, deutete über die Straße hinweg auf ihn. Als dieser sich ebenso nach ihm umsah, fingen beide an herzhaft zu lachen und gingen gemeinsam weiter.
Die Sonne stieg weiter im azur-klaren Himmel auf. Immer wieder, während er weiter durch das Dorf schlenderte, wurden ihm argwöhnische Blick zugeworfen. Manche offen gaffend, andere hinterhältig aus den Augenwinkeln. Sie störten immer wieder das unvermutete Gefühl, alle würden ihn schon kennen und seine Anwesenheit bloß nickend notieren, wie im stummen Gruße einen alten, alltäglichen Bekannten. Vielleicht erging es einfach jedem Neuankömmling in trister Dörflichkeit so.
Schließlich hatte er genug davon, sich von Blicken verfolgt zu fühlen, und ließ sich bei einem kleinen Straßencafe auf einen der freien Stühle fallen. Es war ein hübscher, kleiner Fleck, ganz nach seinem gegenwärtigen Geschmack. Ein dürres, grün lackiertes Zäunchen grenzte die Stühle und Tische von einer Seitenstraße ab. Völlig allein saß er in diesem Dickicht aus gebürstetem Alu und ließ die Hände geduldig ineinander gefaltet, wartend auf dem Tisch. Ein kurzer Durchgang führte in ein schattiges Inneres, in dem er nichts erkennen konnte, noch durch die großen Scheiben links und rechts davon bedeckt mit dem weißen Namensschriftzug des Cafes, in denen sich die vorbeilaufenden Passanten und der Beginn des Hafens spiegelten.
Es war ein bisschen kühl und so bestellte er einen schönen, heißen Capuccino, sozusagen um wach zu werden. Ein junges Mädchen in blauer Jeans und weißer Bluse hatte ihn bedient und war sogleich wieder ins Haus verschwunden wie sie auch erschienen war. Aber nichtsdestoeher war sie auch schon wieder zurück, mit einem Tablett voll weißem, dampfendem Service.
Er zahlte sogleich mit einem ordentlich Trinkgeld, das sie verschmitzt lächelnd in der dunklen Ledertasche verstaute, die sie aus ihrer schwarzen Bauchschürze hervorgekramt hatte. Denn er wollte, wann immer ihm danach sein würde, einfach aufspringen und weitergehen können.
Aber jetzt verzückt und gierig ließ er sich den ersten Schluck schmecken, als plötzlich ein hagerer Mann vor ihm stand, still lächelnd wie scheinbar alle Menschen hier. Er war noch etwas jünger, ungewöhnlich gut gekleidet, aber was ihm am deutlichsten auffiel, war das kantige Gesicht, die kurz geschorenen Haare über der fliehenden Stirn und seine lange Nase. Dieser Mann stand dort und betrachtete ihn, ohne sich dabei Anstand und Respekt bewusst zu sein, dass man fremde Leute nicht einfach so begaffte. Empört räusperte er sich, da brach es schon aus ihm heraus: „Kann ich Ihnen vielleicht helfen?“
„Könnten Sie mir sagen, wie spät es ist?“ Fragte er mit stolzen, gesetzten Worten. Ferro nannte die Zeit auf seiner Armbanduhr, wie spät es denn auch immer wirklich war. Er wunderte sich aber, wozu man in einem kleinen Fischerdorf die exakte Zeit bräuchte, nach deren Genauigkeit – und insbesondere der seiner Uhr – sich der Mann nämlich sogleich weiter erkundigte. Aber anstatt dann zufrieden von dannen zu ziehen und ihn in Ruhe genießen zu lassen, lächelte der karge Mann bloß, blickte ihn einmal von oben bis unten an, nickte und sagte mit einem hintergründigen Blick: „Sie sind ein mutiger Mann!“
Mit einem Schlag war alle genervte Herablässigkeit fortgefegt! Alle Gelassenheit. Alle Sorglosigkeit, die sich nach dem ersten Schluck Capuccino in seinem Mund, seinen Gedanken, seinem wohlig gewärmten Magen breit gemacht hatte, wie sonst an keinem anderen Morgen. Erschrocken fuhren seine Augen von der Tasse herauf und starrten den Mann entgeistert an. Wusste denn jetzt schon die ganze Welt, was er getan hatte und vor allem wem?
„Wie bitte?!“ Das unauslöschliche Lächeln des hageren Mannes brachte ihn um den Verstand.
„Na, sie hier ohne Schuhe und Socken, aber im besten Anzug mit nackten Füßen auf kaltem Stein. So werden Sie sich sicherlich noch den Tod holen! Einen schönen Tag noch.“
Entsetzt gaffte ihm Ferro. Verstört, als er endlich Mut gefunden hatte, die Capuccinotasse zu leeren, stand er auf und ging. Weg von der Hafenpromenade.
Er lief die Seitenstraße hinauf, ein kleines, verwinkeltes Gässchen, indem sich zu beiden Seiten hohe, grau verputzte Häuser, Schulter an Schulter den steilen Hang hinauftürmten. Wie zwischen stummen Riesen hindurch tauchte er in das Innere des fremden Dorfes hinein. Er war Dörflichkeit gewohnt, aber wohl nicht an der Küste, wie er bemerkte. Hier roch alles nach Fisch oder erinnerte daran, wenn man im Vorbeigehen an zum Trocknen aufgehängter Kochwäsche schnupperte. Vom Hafen fern herauf hörte er Möwen schreien und zanken. Aber die letzten Fischerboote fuhren aus und nahmen sie in Scharen im Schlepptau hinauf die noch ruhige See, um in den Netzen einen fetten Bissen bequem zu erhaschen. So wurde das aufgeregte Flügelflattern und streitende Heulen leiser, bis es schließlich verklang.
Stille kehrte so plötzlich ein wie er sie am frühen Morgen am Strand gespürt hatte, heraus aus dem Auto. Dennoch hatte er das Gefühl beobachtet zu werden und nicht nur als etwas Fremdes, sondern als jemand Erwartetes. In diesen Gassen fühlte man sich ein bisschen wie ein Fisch, jede Gabelung und Kreuzung führte in noch mehr aufgestellte Reusen.
So lief Ferro getrieben von Angst durch die Eingeweide des Dorfes. Bald verlor er im kalten Zwielicht Schulter an Schulter unter den grauen Riesen die Orientierung. Und je weniger er spürte, wo es wieder hinausging, desto mehr begann er sich zu beeilen. Schon schallte sein gehetzter Tritt auf patschenden Barfüßen über das unstete Pflaster, bog mal nach links, mal nach rechts, um dann wieder zurück, um noch schneller als zuvor Fuß zu fassen. Das kleine Fischerdorf war ein einziges Labyrinth und bei der Suche nach dem Ausgängen fand er nichts als Sackgassen, in denen mal Wäsche trocknete, mal feuchte Kisten vergammelten, aber stets eine lange Fensterspalte fragend danach trachtete, was er hier denn wolle. Immer wieder musste er mal enttäuscht, mal erschreckt, am Ende panisch zurückschrecken, umdrehen und in entgegensetzter Richtung weiterhetzen. Immer stärker bohrten sich die dunkel spiegelnden Fenster in seine Gedanken, die ihn wie ein einziges Auge verfolgten. Er fühlte sich endlos schuldig, ohne einer echten Schuld bewusst. Im wilden Lauf setzte er um eine weitere Ecke. Sein Blick fuhr hinauf.
Thronend stand vor ihm der hagere Mann! Unheilvoll rollte ihm sein dünnes Lächeln entgegen. Und mitterschwarz fuhr ohnmächtige Nacht in Totschlägergestalt auf ihn herab.
Er erwachte voller Nackenschmerzen und müde blinzelnd. Um ihn hörte er ein stetes Rumpeln. Beine und Arme konnte er nicht bewegen. In seinem Mund fühlte er einen dicken Knebel. Und als er die Augen aufschlug, blickte er aus der Vorderscheibe eines Autos in den Verkehr auf den vielen Spuren einer Autobahn ringsherum. Vergeblich versuchte er sich nach links zu drehen, sein Nacken jaulte gequält auf. Doch aus den Augenwinkeln erkannte er den hageren Kerl. Und vergeblich war auch der Versuch, um Hilfe zu schreien.
„Gib Dir keine Mühe. Du kannst zappeln soviel Du willst, keinem wirst Du auffallen.“ Kommentierte der ruhig seine windenden Bemühungen. „Wird nicht mehr lange dauern bis Florenz.“
Auf einmal stumm nickte Ferro und blieb ruhig. Alles war vorbei und die Konsequenzen hatten ihn endgültig eingeholt. Das Davonlaufen hatte ein Ende.
Die Autobahnkilometer rannten in einem fort. Hinweistafeln zählten sein restliches Leben herunter. Er genoss die Fahrt, gefesselt, geknebelt und zur Tatenlosigkeit verdammt wie er nun einmal war.
Es war Ferros letzter Ritt. Und DeCielo wartete schon.
Er schlug die Augen auf, hob den Kopf hoch in den Nacken und fing an zu keuchen. Etwa steckte ihm in der Kehle! Er würgte und röchelte, bis er plötzlich einen trockenen Schwall Blut auf den Boden erbrach. Seine Augen verharrten weit aufgerissen, erstarrt auf der dunkelroten Farbe. Durch einen trüben Schleier drangen mit einem Mal die Schmerzen eines zerschundenen Körpers. Sein rechtes Schienbein, taub und dumpf, brüllend vor Pein. Seine Wangen aufgequollen. Ein Strich wie ein scharfer Schnitt unter seinem linken Augen. Wenn er die Gesichtsmuskeln bewegte, spürte er seine geschwollenen Backen, darauf das getrocknete Blut, Tränen und den Schweiß, der in den Wunden brannte.
Er war getreten und geschlagen, gefoltert und zermürbt, taub und leer. Im feuchten, klammen Keller war er auf einem wackeligen Stuhl erwacht. Direkt über ihm musste eine schummrige Glühbirne hängen, denn er sah den Blutschwall auf seinem vorn übergebeugten Schatten, der sich diffus auf grauen Beton abzeichnete.
Er hob erneut den Kopf und schaute an einer dicklichen Gestalt herauf, die ihn unentwegt betrachtete. Sie trug einen türkisen, exzellent geschneiderten Bademantel, auf dem ein krebsrotes Gesicht thronte. Er hörte noch: „Bist Du endlich aufgewacht, Cornelio!“ Dann drosch ihm eine Faust erbarmungslos ins Gesicht. Sein Kopf schleuderte wie ein Baseball getroffen zur Seite und matt fiel er hinab auf seine Brust. Augenblicklich waren ihm die Lider zugefallen. Eine dicke Schramme tat sich rot auf und ein Rinnsal Blut troff über sein Gesicht.
„Boss, was soll denn das? Wenn Du ihn dauernd ohnmächtig schlägst, dann erfahren wir gar nichts mehr von den Büchern.“ Erklang eine gelassene Stimme.
Er spürte unter der faustgroßen Umnachtung noch einen Dritten im Raum. Jemanden, den er flüchtig unangenehm kennengelernt hatte und dessen Blick er fühlte, teilnahmslos lächelnd und ständig auf sich ruhen.
„Halt die Klappe! Das Arsch hier hat mich verraten, verkauft, hintergangen! Nicht wahr, Cornelio, nicht wahr!“ Brüllte DeCielo auf ihn hinab und gab ihm einen Schwinger in den Magen mit, daß er röchelnd vom Stuhl sackte. „Also“, schrie er, „wo sind die Bücher!“
Von der knienden Gestalt kam keine Antwort, und wie sollte auch.
„Jetzt, lass ihn erstmal Luft holen. Sonst ist er tot, bevor er es sich überhaupt überlegen kann.“
„Mia wollte heute Morgen nicht, sagte, sie hätte Kopfschmerzen.“ Er rollte grollend mit den Augen. „Dazu ich nur: Ich auch! Und warum? Wegen einem dreckigen Arschloch in meinem Keller, das mich an die Carabinieri verpfiffen hat.“ Sein funkelnder Blick fuhr herum und schwebte schweigend über Ferro. Dann fuhr er leise drohend fort: „Und dann sagte ich zu ihr: Wehe, Du hast noch Kopfschmerzen, wenn ich wieder ins Bett komme und meine erledigt sind! Ich habe also sehr schlechte Laune.“ Schon donnerte seine Ungeduld: „Rück mit meinen Büchern raus, Cornelio! Es sind meine Geschäfte, ergo meine Bücher. Gib sie mir!!“
„Ferro.“ Flüsterte es.
„Wie?!“ Kam die entgeisterte Reaktion.
„Ich heiße Ferro.“ Sprach stumm die in ihrem eigenen Blut kauernde Gestalt. Adamo, der versucht hatte, den Boss zu beruhigen, staunte bloß über diese Chuzpe. Dann hob Ferro seinen Kopf und blickte dem Boss mitten ins schwitzende Antlitz, soviel Kraft wie ein Gebirge angesichts eines schweren Sturms lag in seinen dunklen Augen, und nicht das geringste Gefühl, keine Regung, nicht einmal der Schmerz oder ein stiller Ausdruck von Qual, nichts als Leere, über die niemand sich erheben konnte.
Da drehte der Boss durch. Er wirbelte herum und riss Adamo die Pistole aus dem Schulterhalfter. Schon war wieder bei Ferro und drückte ihm die kalte Mündung an die Stirn.
„Es geht hier um Dein Scheiß Leben, Cornelio.“ Flüsterte er, ihm heiser drohend. „Es geht um Dein Leben. Nicht weniger!“ Dann hob er die Pistole blitzschnell hoch und drückte ab. Krachend entlud sich ein Schuss splitternd in die Decke. Adamo zuckte erschrocken zusammen. Zu Tode erschrocken kreischte eine Dienstmagd. Laut polterte Geschirr auf den Boden über ihnen. Als Adamo hinauf sah, bemerkte er fein rieselnden Staub, der genau auf Ferros Kopf herabregnete.
„Boss, mach keinen Unsinn. Wir…“ Wollte er ihn beschwichtigen, aber DeCielos zitternder Blick ließ ihn verstummen.
In diesem Augenblick sah auch er wieder herauf, zur dritten Gestalt im Raum. Ein Gesicht tauchte auf, warm, dunkel gelockt, weiche, runde Lippen, die zu ihm sprachen, ohne daß er Worte hörte. Mamma! Und er sah sich wieder über die Felder streifen, an der Olivenbaumallee entlang jagen, im Schuppen mit ihr verstecken spielen. Es pulsierte wohlig warm durch seine Adern, sein Herz pochte ruhig und sanft in seiner Brust, daß er jeden einzelnen Schlag langsam und gleichmäßig spüren konnte. Aber durch die Erinnerung von Olivenbaumhainen und Hügelland tauchte schmerzhafte Realität hindurch und er erkannte, wen er da betrachtete, hinten an der Kellerwand, abseits stehend. Es war sein Vater, über all die Jahre hinweg nicht gealtert, immer an DeCielos Seite. Er war gar nicht geflohen! Alles war nur eine Finte gewesen. Wozu? In dessen Blick zurück stand nichts, kein Wiedererkennen, keine Sorge um seinen Sohn, keine Qual um das eigene Fleisch und Blut. Durch ihn musste er in die ‚Familie‘ gelangt sei, eine lenkende Figur im Hintergrund, die für ihn alle Tore geöffnet hatte. Nahm er seinen Verrat etwa persönlich?
Da traf ihn erneut die Faust des Bosses und diesmal drang der Schmerz durch und durch. Wer war hier eigentlich weggelaufen? Sein Vater oder nicht viel mehr er selbst, jahrelang vor der Wahrheit? Stöhnend brach er auf dem Boden zusammen und spuckte erneut bitteres Blut.
„Steh auf!“ Rief der Boss.
Ferro rührte sich nicht.
Erst ein Tritt, der ihn auf die Seite warf, ließ ihn langsam und mühevoll, erst auf alle Viere, dann auf wackelige Beine finden. Er hob den Kopf und stand schließlich DeCielo gekrümmt gegenüber, wie ein Boxer im Kampf, dem man zwölf Runden zuvor befohlen hatte, sich nicht zu wehren.
„Wo sind meine Bücher!“ Hallte es im Keller wider.
Er stand nur noch da und sah den Konsequenzen mitten ins Gesicht. Er drehte sich nicht mehr herum und versuchte wegzulaufen. Der Boss hielt die Pistole lässig an der Seite und inspizierte mit gekipptem Haupt seinen Gegner in zerrissener Hose und verschwitztem, blutbeflecktem Unterhemd, darunter nichts als eine schmächtige Figur aus Haut und Knochen. Ferros Augen schweiften kurz über die Waffe. Das reizte den Boss, damit zu drohen. Er hob den Arm und zielte mit der Pistole auf Ferro. Der rührte sich nicht. Aber er verschwendete auch keinen Blick mehr an DeCielo, sondern einzig und allein hafteten seine Augen auf dem glänzenden Stück Stahl in dessen Hand, furchtlos.
Da begann der Boss langsam um DeCielo herumzuschleichen, die Mündung unentwegt auf ihn gerichtet.
Und Ferros Augen folgten.
„Wo sind meine Bücher!“
Er schoss.
Krachend entlud sich die Kugel und peitschte zuckend und blitzend aus der Mündung, während der Donner von den Wänden dröhnend widerhallte. Aber Ferro hatte die Bewegung erahnt, das Krümmen des Zeigefingers, das Zusammenzucken der Hand gesehen, hatte einen Schritt zur Seite gemacht, am Stuhl und am Schuss vorbei.
Langsam verebbte das donnernde Echo.
Das Spiel gefiel dem Boss, man sah es in seinem funkelnden Blick, der lechzte und gierte. Adamo schaute mit halb offenem Mund zu und konnte nicht begreifen, wie DeCielo seine letzte Chance wegwarf. Der Vater stand weiterhin im Schatten, beobachtete, tat und sagte aber nichts.
Wieder schoss der Boss, aber ungezielt. Absichtlich an Ferros Kopf vorbei, der sich erschrocken duckte und den Kopf zwischen die Schultern einzog. Man merkte, vom lauten, nahen Knall hatte er das Gehör verloren. Nichts als gespenstische Ruhe. Das Tapsen von DeCielos Badelatschen war fort, sein Schnaufen und gieriges Keuchen, und auch die unheimliche Stille im Keller, wo kein anderer zu atmen wagte. Aber richtig schauerlich wurde es, als der Boss zu rufen und krakeelen begann. Er wusste ja, was der Schuss bewirkt hatte. Und Ferro verstand nichts, nur: „…Bücher! … Bücher!!“
Wieder schoss er. Die Mündung zielt zwischen Ferros Beine. Die Kugel schlug zwischen ihnen hindurch, knallte auf dem Boden auf, prallte ab und bohrte sich in die Kellerwand hinter Ferro. Der stumme, bebende Knall war für ihn kaum mehr als der Blitz aus einer Kamera. Weiter tänzelten sie um den Stuhl herum, an dem Ferro im Rücken sich mit einer Hand festhielt.
Ein einzelner Blick streifte ihn.
Erneut drückte DeCielo ab. Da blieb Ferro stehen.
Sein Mund war geöffnet, für einen Moment ungläubig, dann schluckte er und schloss ihn zu einer dünnen Linie und sah den Boss an. Ferro rührte sich nicht. Ein runder, tiefroter Fleck formte sich unter seinem Unterhemd, und wuchs unaufhörlich.
DeCielo war erschrocken zusammengezuckt. Mit einem Schlag wurde er von der Konsequenz gepackt: Sein Imperium würde sterben. Bedauern, Leid und Wahnsinn mischten sich in seinen Augen zu Tränen, die über seine dicken Wangen rollten und auf den Betonboden hinabstürzten. Er streckte zaghaft reuevoll eine Hand nach Ferro aus.
Aber der starrte ihn nur an, regungslos.
Plötzlich sackte Ferro hinab auf die Knie. Aber er hörte nicht, auf ihm in die Augen zu schauen. Ewig sollte er wissen, wer es war, der sein Imperium zerstörte. Niemand anderes als er selbst.
Und starb.
So starb Cornelio Ferro, der Mann aus Eisen, zu Füssen von DeCielo, dem Boss. Ich habe es gesehen.
Ich bewunderte ihn, vom ersten Moment an, als ich ihn in der kleinen Stadt am Mittelmeer traf. Vom Foto, das mir, mit dem Auftrag ihn zu finden, gegeben worden war, erkannte ich ihn wieder. Doch seine Augen hatte ich damals nicht erkannt. Unscheinbare Kraft steckte darin und ich wusste, daß DeCielo fallen würde, durch diesen Mann. Vom ersten Tag, an dem ich ihn traf.
Warum brachte ich ihn dann zurück, nicht wahr? Warum ließ ich ihn nicht gehen?
Der Boss wäre doch auch ohne ihn gefallen. Ohne die Bücher, nicht wahr?
Aber seine Kraft lag nur in dieser einen Sache. Das war sein Leben, sein Schicksal – auch wenn ich dieses Wort nicht mag. Er musste zu DeCielo und er musste sterben. Als Abschluss, von allem, was er getan hatte. Er musste ihn vernichten, nicht durch Zahlen, nicht durch Bücher, sondern durch sich selbst!
Nur seinen Blick auf mich verstand ich nicht. Als ob er in mir jemanden von vor langer Zeit wiedererkannte. Wie der Seufzer eines Toten. Eine Melodie vom Galgen.